9. (Lucan POV aus Lucan's Sicht)
Ich fuhr die lange Allee zu meinem Anwesen hoch, meine Umgebung jedoch beachtete ich kaum. Die Gedanken in meinem Kopf wichen immer wieder von der Realität ab und flogen zu ihr, Vanessa.
Warum konnte ich an nichts anderes mehr denken? Würde meine mangelnde Konzentration sich auf meinen Clan auswirken? Auf die, die sich auf mich verließen?
Eigentlich waren sie es, an die ich denken musste. Besonders zu diesem Moment. Es stand ein großes Ereignis bevor:
Ein Treffen der Clanführer.
Wir treffen uns alle 25 Jahre um die Probleme der einzelnen Clans zu besprechen und über unsere Regeln zu diskutieren.
In ein paar Tagen war es wieder so weit und ich hatte das Vergnügen alles vorzubereiten.
Innerlich schüttelte ich den Kopf. Diese Treffen waren sehr anstrengend und dauerten meist ein paar Wochen. Ein paar Wochen, in denen ich für meinen Clan Sorge tragen muss und zusätzlich noch darauf achten muss, dass keiner der Mitglieder der anderen Clans meine Regeln verletzten.
Stephane, Thierry und Alexia, die jeweils anderen Clanführer, würden zwar auch darauf aufpassen, aber mir war es doch lieber selbst dafür zu sorgen, dass keiner unerlaubt in einem verbotenen Gebiet jagte.
In der Vergangenheit hatte es schon genügend Probleme mit Revierstreitigkeiten gegeben.
Es wurden große Schlachten entfacht und während dieser Zeit starben sehr viele meiner Art. Nur vier konnten sich durchsetzen und schlossen einen Pakt, der jeden von ihnen zu einem Clanführer erhob. Jeder bekam ein Gebiet zugeordnet in dem er und sein Clan leben konnten ohne irgendetwas befürchten zu müssen. Das ist wohl der dunkelste Fleck in unserer Geschichte. Niemand redete gerne darüber was damals geschehen ist, besonders die, die dabei waren. Deshalb ist es wichtig geworden über unsere Regeln zu reden und nicht wieder wie damals anzufangen. Zum Glück haben die Menschen nichts mitgekriegt.
Ich schlug mit meiner Faust gegen das Lenkrad.
Was dachte ich denn schon daran ja nichts den Menschen zu verraten, wo doch gerade ich Vanessa viel zu viel von meiner wahren Seite gezeigt hatte?!
Ich war es doch gewesen, der einfach so aus ihrer Wohnung verschwunden ist!
Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Nichts, sagte mir mein Kopf. Einfach gar nichts!
Noch einmal schlug ich mit der Faust gegen das Lenkrad meines Wagens.
Ich musste mich mehr unter Kontrolle halten, das wurde schließlich von mir erwartet.
Langsam kam das große Anwesen in Sichtweite.
Von außen war es grau und eine Seite wurde von grünem Efeu bedeckt. Es ist groß, dass musste es aber auch sein, um alle Mitglieder meines Stammes beherbergen zu können und ihre Familien nicht zu vergessen. Ich sollte mir wohl mal Gedanken darum machen uns ein neues Anwesen zu suchen. Wir lebten hier schließlich schon sehr lange. Ich erinnere mich daran, wie ich als Junge durch die Gänge gelaufen bin und jetzt tun es andere kleine Kinder meines Clans. Es ist schön mit anzusehen wie sie sich entwickeln, welche Entscheidungen sie treffen und wie sich die auf ihr weiteres Leben auswirken. Das mit zu erleben erfüllte mich mit Stolz.
Rechts neben dem Anwesen erstreckte sich eine weite Halle in der die Wagen und Motorräder aufbewahrt wurden. Jeder des Clans hatte Zugang zu ihnen und konnte sie nutzen.
Ich parkte neben einem schwarzen Lexus und stieg aus.
Sofort gingen die Lichter in der Halle an. Eigentlich brauchten wir sie nicht, wir konnten auch so perfekt sehen. Wir besaßen sie eigentlich nur, damit die Menschen nicht einen Grund hatten uns als anders anzusehen, jedenfalls nicht mehr, als sie es nicht schon tun würden.
Mein Mantel schlug mir leicht gegen die Fußknöchel, als ich mich auf den Weg zum Hauptgebäude machte. Ich hoffte, dass es heute keinen schlechten Nachrichten gab, das konnte ich im Moment gar nicht gebrauchen. Eigentlich wollte ich nur in mein Zimmer und mich ausruhen, der Tag war einfach zu lang gewesen. Genau wie die Tage davor, meldete sich wieder mein Kopf.
Ich zog die großen Flügeltüren auf und trat in den Gemeinschaftsraum des Clans. Von allen Seiten kamen Begrüßungen und ich nickte vielen von ihnen zu. Der Raum war sehr komfortabel eingerichtet. Überall standen kleine Sitzgruppen zusammen und durch einen Leuchter an der Decke kam gedämpftes Licht.
„Lucan, da bist du ja! Ich habe schon auf dich gewartet. Es gibt etwas Neues!“
Ich hob meinen Kopf um Gregoire anschauen zu können, der mir eilig entgegen kam.
Er war mein bester Freund im Clan und mein Vertrauter, außerdem war er der einzige mit dem ich auch mal über Angelegenheiten sprach, die außerhalb des Clans lagen.
Er blickte mich vielsagend an.
„Bitte lass es nichts Unangenehmes sein.“, antwortete ich ihm und wandte mich nach links, um ungestört mit ihm sprechen zu können.
Er schloss die Türen hinter sich und drehte sich zu mir um.
„Mann Lucan, du siehst nicht gut aus.“, stellte er fest. „Du solltest mal ein bisschen weniger arbeiten.“
„Wem sagst du das?“
Ich ließ mich in den großen Sessel vor dem Kamin fallen und deutete Gregoire an sich mir gegenüber hinzusetzen, doch er winkte nur ab.
Mit einer Hand fuhr ich mir über’s Gesicht und wartete darauf, dass er endlich anfing.
„Worum geht es?“, fragte ich nach einer Weile, nachdem Gregoire immer noch kein Wort gesagt hatte. „Hat es etwas mit dem Treffen zu tun?“
„Ja, das hat es. Thierry hat uns heute eine Nachricht zukommen lassen, dass sie nicht mit allzu vielen ihres Clans hierher kommt. Sie sagte es wären so um die fünf, mehr nicht.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zum einen, weil weniger kamen als ich erwartet hatte, was wiederum hieß, dass es nicht ganz so anstrengend werden würde. Und zum anderen, weil ich mir dann nicht so viele Sorgen wegen dem Platz hier im Anwesen machen musste.
„Da ist aber noch etwas, Lucan“, fuhr Gregoire fort.
Ich nahm meine Hand vom Gesicht und schaute ihn direkt an.
„Was ist es?“
Nach dem Gesichtsausdruck zu urteilen war es etwas, was nicht sehr angenehm für mich werden würde.
„Jemand hat alte Unterlagen aus unserem Archiv geklaut.“
„Welche Unterlagen, waren es wichtige?“
„Ja, Unterlagen, die in unserer Kriegszeit geschrieben wurden und alles was mit unserer Geschichte zu tun hat“, antwortete Gregoire und senkte den Kopf.
„Wie kann das möglich sein!“ Ich sprang aus dem Sessel und lief im Raum auf und ab. „Sie waren doch bewacht, und das nicht nur von Kameras!“
„Ich weiß es nicht, Lucan.“
„Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“
Er schüttelte den Kopf. „Niemand weiß wer es gewesen ist.“
„Wenn etwas an die Außenwelt gerät sind wir geliefert! Alles was wir bisher über uns erfahren haben stehen in diesen Dokumenten! Alle Forschungsergebnisse, die wir erzielt haben!“ Aufgebracht lief ich weiter auf und ab. So etwas durfte nicht passieren! Es ist ein zu großes Risiko, dass es in die falschen Hände gerät.
„Habt ihr schon auf den Überwachungsaufnahmen nachgeschaut, die Wächter befragt?“
„Ja, dass haben wir. Bitte beruhige dich. Dein Mantel fängt sonst gleich wieder an zu rauchen und Feuer zu fangen.“ Ich atmete tief durch und versuchte meinen Puls zu beruhigen. Es war schwer seine Fähigkeiten unter Kontrolle zu bringen, wenn man so aufgeregt über etwas war. Langsam legte sich das Feuer in meinem Inneren wieder.
„Okay, hast du eine Ahnung was wir jetzt machen könnten?“, fragte ich meinen Freund und schaute ihn wieder an.
Er wiegte leicht den Kopf von einer Seite auf die andere, wie er es immer machte, wenn er nachdachte. Sein braunes Haar fiel ihm dabei immer wieder ins Gesicht.
„Ich würde sagen, wir warten mal ab und schauen ob etwas passiert. Der, der die Unterlagen gestohlen hat will etwas Bestimmtes, davon bin ich überzeugt.“
Ich dachte eine Weile darüber nach.
„Ja, du hast Recht. Der Dieb wird sich noch melden.“ Das Feuer in meinem Inneren hatte sich schon wieder etwas gelegt und so fiel mir das Konzentrieren wieder leichter. „Wenn ich ihn erwische ist er tot, das kann ich dir versprechen!“
Gregoire lächelte mir freundlich zu. „Das glaub ich dir, auch ohne dass du es mir versprichst.“ Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.
„Aber was soll ich Thierry, Alexia und Stephane sagen?“
„Noch gar nichts. Außerdem sind sie ja noch gar nicht hier. Vielleicht löst sich ja alles vorher noch auf.“
„Ich hoffe es. Ich habe auch so schon genug zu tun.“ Seufzend strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. „Wie geht es denn mit den Vorbereitungen voran?“, fragte ich ohne große Lust.
„Sehr gut, die meisten Zimmer sind schon hergerichtet und der Konferenzraum ist auch schon vorbereitet. Sie können eigentlich schon kommen.“
„Was ist mit der Verpflegung?“
„Alles geregelt.“
„Super, du bist der Beste. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, Gregoire!“
„Die Versammlung einfach im Keller abhalten?“, fragte er sarkastisch.
Ich musste einfach ein wenig lachen. „Ja, wahrscheinlich. Ich gehe dann mal in mein Zimmer“, sagte ich schlicht.
„Ja, bis morgen Lucan, und schlaf gut!“
„Du auch.“ Mit diesen Worten ging ich wieder aus dem Zimmer.
Wieder im Versammlungsraum legte ich meine Waffen in einen Schrank, der an einer Wand stand und schloss ihn wieder ab.
Die Halle hatte sich fast gänzlich geleert, die meisten waren auf ihre Zimmer gegangen oder waren noch draußen.
Langsam stieg ich die Treppen hinauf in den obersten Stock und ging einen langen Gang entlang. Links und rechts führtenTüren zu den einzelnen Zimmern. Ganz am Ende kam endlich meine Tür in Sicht.
Ich stieß sie auf und trat in mein Reich.
Mein kleines Apartment besaß drei Räume, ein Bad, ein Wohn- und Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer.
Ich zog mir meinen Mantel aus und warf ihn auf die Coach und mich gleich dazu. Im Moment brauchte ich einfach etwas Entspannung. Die letzten Tage waren einfach mehr als stressig gewesen. Die Fernbedienung für meine Anlage lag neben mir. Mit einem Knopfdruck ging die Musik an.
Mit schweren Bewegungen stand ich auf und ging ins angrenzende Bad.
Was sollte ich jetzt wegen Vanessa machen? Sie nicht mehr wiedersehen, sie einfach vergessen?
Ich glaube nicht, dass ich das einfach so kann. Vielleicht sollte ich zu ihr gehen und mich eingehender mit ihr unterhalten. Meine ganzen merkwürdigen Reaktionen auf sie waren bestimmt nur da, weil ich so viel arbeitete und nicht weil ich irgendetwas für sie empfinde.
Und doch konnte ich nicht ganz abstreiten, dass da etwas war was ich für sie empfand. Der Kuss hatte etwas in mir ausgelöst wie noch nie zuvor. Das Feuer in mir wurde stärker, aber auf eine Art und Weise wie noch nie zuvor in meinem langen Leben. Es war, als würden die Flammen sich in mir ausbreiten und mich völlig gefangen halten in dem Gefühl, das Vanessa in mir verursachte.
Ich ließ das Wasser an und stieg in die Dusche. Die Musik war nur noch ein leichtes Rauschen im Hintergrund.
Was sie wohl jetzt gerade machte?
Wahrscheinlich in ihrem Bett liegen, wie jeder normale Mensch. Obwohl, so normal schien sie mir nicht zu sein. Eher, als wollte sie anders sein. Nicht nur wegen ihrem Kleidungsstil, sondern auch was ihre Hobbies betrafen.
Das wenige was ich mitgekriegt habe, hat mir schon einen kleinen Einblick verschafft. Soweit ich das sagen konnte, mochte sie die Geschichte, alte Zeichen und Symbole.
Die meisten Bücher in ihrem Schrank hatten sich um die beiden Themen gedreht. Sie hatte aber auch erwähnt, dass das nur ein Teil ihrer Bücher wären...
Wo sie wohl die anderen aufbewahrte?
In Gedanken beschloss ich noch einmal zu ihr zu gehen und mich mit ihr zu unterhalten, vielleicht gab das mehr Aufschluss darüber, was ich für sie empfand.
Mit diesem letzten Gedanken drehte ich das Wasser wieder ab und schnappte mir meinen Mantel und warf ihn mir über.
Ich ging wieder in mein Wohnzimmer und zog die schweren Vorhänge zu. Sie waren dick genug um die Sonne abzuschirmen, aber zur Sicherheit waren überall an den Fenster Rollos angebracht, die zusätzlichen Schutz vor der Sonne boten.
Ich griff mir die Fernbedienung und nahm sie mit in mein Schlafzimmer. Auch dort zog ich die Vorhänge zu und legte mich ins Bett.
Ich schaltete die Musik aus und legte die Fernbedienung neben mich auf den Nachttisch.
Fast sofort glitt ich in einen leichten Schlaf über.